Der Marsch des Barai

      Der Marsch des Barai

      „Setzt Euch, Söhne Haleths – wärmt Euch am Feuer und lasst einen der Euren seine Geschichte erzählen.“ Der Mann mittleren Alters lud mit einer langsamen Geste die jungen Krieger an die Feuerstelle und hob an:

      „Ich will Euch etwas lehren über jenes, das euch zu Haladin macht. Merket auf und höret meine Worte, denn auch wenn das Volk von Haleth viel erlebt, so gibt es doch kein geschrieben Wort, das meine Kunde zu Euch tragen könnte.“

      „Verborgenes Reich wird unsere Heimat genannt und doch sind wir nicht König in dieser Gestade. Die Elben von Doriath herrschen über diesen Winkel Mittelerdes seit ewigen Zeiten. Und doch kennen wir unseren Wald, den die Völker der freien Welt als Brethil kennen, besser als jede Grauelbe aus dem Herzen Doriaths. Die Flüsse Teiglin und Sirion sind uns Grenze, Lebensader und Mission zugleich. Die Teiglin-Furt, ein schmaler Übergang zu unserer Heimat und den Toren Doriaths, sind wir verpflichtet, um jeden Preis zu halten. Diese Aufgabe macht uns für die Herren des Grauelbenreichs unersetzlich und bescherte unseren Vätern unser geliebtes Brethil.
      Vergesset nie, weshalb Ihr hier seid, weshalb Ihr atmet und dieses Schwert tragt – es ist die ewige Pflicht, den Grenzfluss gegen die dunklen Horden zu halten. Ehre wird jenen zuteil, die sich hier einen Namen machen. Doch wisset, dass keine Grenze zu halten ist, keine Furt zu verteidigen, ohne ein mächtiges Bollwerk im Rücken, das uns Hort in der Not und nahrhafter Busen in den harten Wintern ist.“

      Der Mann warf seinen Umhang zurück, legte ihn vor sich auf den Boden und breitete darauf eine Karte aus.

      „Sehet Brandirs Werk auf der Spitze des Amon Obel – spüret die Macht, die uns diese Feste verleiht. Nie wurde die Palisadenfestung Ephil Brandir von den Dunkelmenschen oder ihren dreckigen Verbündeten erobert. Streng geheim ihr Standort und älter als wir alle zusammen die Balken, die sie tragen. Fällt dieser Ort, fällt Brethil und endet die Zeit der Haladin. Denkt immer an diese Worte – ob beim Führen Eures Schwertes oder unter dem Brandeisen im Folterkeller von Morgoths Horden. Niemals, niemals...“ Der Mann erhob die Stimme zu einem donnerartigen und doch kontrollierten Grollen „Niemals wieder darf der Feind den Standort unserer Feste kennen; dafür sind wir hier!“
      Schweigen erfüllte die Runde. Im Dunkel der Nacht nur das Rauschen des Flusses Teiglin, dessen starkem Strom und schmaler Passage alle Haladin ihre Freiheit verdankten. Denn das, was dort jenseits des Flusses auf die Menschen wartete, ließ in unzähligen Geschichten noch erfahrenen Kriegern einen Schauder über den Rücken laufen.

      Doch was bedeutete Freiheit für die Söhne und Töchter Haleths? Konnten sie frei sein in einem Land, das nur geliehen von den Kindern des ersten Volkes Mittelerdes? Gleiche unter Gleichen – war das möglich für Menschen unter Elben? Der Mann faltete die Karte behutsam zusammen und hob erneut an:

      „Seid Euch gewahr, dass unser Volk nur wenige Klingen zählt und ein Menschenleben nicht ewiglich währt. So ist es eines jeden Haladin Pflicht, sein Leben und das seines Schildnachbarn bis zum letzten zu verteidigen. Ihr seid hier, weil jeder Sohn Haleths – welchem Handwerk auch immer er nachgeht – bei der Verteidigung unserer Wälder gebraucht wird. Und Ihr seid hier, weil es die Oberen Doriaths – unsere elbischen Herren – befehlen.“
      Einen Augenblick hätte man meinen können, ein verachtendes Funkeln in den Augen dieses Mannes erkannt zu haben. Oder war es doch das Flammenspiel in seinen Zügen? Nichtsdestotrotz, eines war jenen, die ihn besser kannten klar. Er gehörte der Fraktion der Hildor, was soviel wie „Sterbliche“ bedeutete an. Anhänger dieser Richtung vertraten die Meinung, die Menschen müssten sich emanzipieren und neben, nicht nach den Elben stehen. Zweites Volk hin oder her, sie hatten die Ringkriege als Waffenbrüder bestritten und sollten auch als solche behandelt werden. Die meisten militärisch gut ausgebildeten und im Waffengebrauch geschulten Haladin hatten sich den Hildor angeschlossen. Während die älteren und gemäßigten Kräfte in Brethil zu den Elendili, den sog. „Elbenfreunden“, gehörten. Sie bewunderten Anmut und Kultur der Elben und nahmen die Rolle der unterlegenen ohne Widerrede an.
      Der Mann, welcher hier am Feuer im Kreise seiner getreuen saß, hatte mit Kultur wenig Frieden gefunden, konnte sich nicht einmal für die Verzierung auf seinem Schilde begeistern. Vielmehr der Mut des Einzelnen und die straffe Schlachtordnung der Truppe waren seine Obsession. Kein Wunder also, dass dieser Mann die Rolle des „zweiten hinter Elben“ nicht so recht annehmen konnte. Er fuhr fort und zeigte dabei auf einen Jüngling neben ihm:

      „“Bei Ilúvatar“ hörte ich dich in der Formation laut rufen. Wären wir wie jeder andere Mensch und lebten in dem Luxus nicht jeden Tag am Scheideweg zwischen Gut und Böse zu streiten. Dann, ja dann, könnten wir uns den ach so menschlichen Kult um den ersten Gott sicher leisten. Doch wisset – nicht die Stärke der Natur oder jener Kraft, die sie beherrscht, führt Euer Schwert. Es ist die Macht Eures inneren Feuers und der Wille Eures Schildnachbarn, die Euch am Leben halten und Eure Feinde in die Flucht treiben.“
      Verunsichert schaute der adressierte Jüngling zu Boden. Er wusste wenig über den Erzähler, den er auf den vierten Teil eines Yén – also Mitte Dreißig nach menschlicher Zeitrechnung - im Alter schätzte. Das war nichts für ihre Herren, die Elben von Doriath, welche Ihnen der Einfachheit halber ihre Zeitrechnung auferlegt hatten. Doch für einen Haladin bedeutete dies fast zwanzig Jahre – mit Unterbrechungen – Dienst an der Furt des Teiglin. Der Mann war nicht auffällig für die Verhältnisse Brethils. Mittlere Statur, eher feingliedrig und doch zäh ob unzähliger Entbehrungen im Ringen mit den dunklen Horden. Und doch, eines fiel auf. Seine Augen. Während fast alle Haladin durch tiefes Dunkel in den Augen kennzeichnete, leuchteten die seinen in einem Wechselspiel von Blau und Grau. Fast schon erinnerte dies an die grauen Augen der Elben von Doriath. Und der Jüngling tat weise daran, diesen Vergleich nicht laut heranzuziehen, wäre dies doch bei den Hildor und Kritikern elbischer Vorherrschaft ein Makel wenn nicht eine Beleidigung.
      Der Bart hingegen unterschied ihn nur von einigen der jungen Haladin am Feuer und symbolisierte nichts anderes als seine Seniorität. Was jedoch auffiel, war die kurze Schur des Kopfes. Zeichen höchsten Pragmatismus, um nicht Haarespracht die Sicht zum Gegner versperren zu lassen? Oder doch ein Zeichen des Spotts über das Schönheitsideal der Elben? Hätte der Jüngling nicht so intensiv über diese Dinge nachgesonnen, hätten einige der folgenden Ausführungen Antwort auf bestimmte Fragen sein können.

      „Sind jene, welche die Götter nach Ilúvatar selbst kannten, geschickter im Kampf, tapferer in der Schlacht?“ fuhr der Mann am Feuer fort und bezog sich damit eindeutig auf den Anspruch der Ältesten unter den Elben, die Götterkinder selbst gekannt zu haben. „Ich will Euch keinen Glauben vorschreiben, Söhne Haleths. Doch erziehen zum Glauben an Euch selbst will ich Euch!“ Nun erhob sich der Mann und die Gruppe der Soldaten am Feuer teilte sich plötzlich in zwei Parteien. Jene, die nicht wussten, was nun folgen sollte und unsicher mit den Augen ihren Nachbarn um Rat fragten. Und jene, die aufsprangen und laut „Barai“ skandierten. „Barai, Barai“ Immer wieder dieser Name.

      „Ich will Euch nun verraten, was mich wissen lässt, dass Eure Stärken in Euren Herzen, in Euch selbst, verankert ist.“ Er stützte sich auf sein Schwert, schaute in die Runde und begann zu erzählen:

      „Auch ich wuchs nicht mit dem Schwerte auf. Mein Vater, wie auch meine Mutter, lehrten mich den Umgang mit dem Pfluge. Bauern waren sie beide, wie es bei uns Brauch ist. Was der eine tut, das tut der andere. Nur so kann ein kleines Volk wie das unsrige die Synergien nutzen und darauf seine Kräfte ziehen. Hart machte mich nicht der Kampf, sondern die Arbeit allein nach zweien, denn – obwohl es meinen Eltern wie allen Haladin von den Elben Doriaths erlaubt war – verstärkte kein zweites Kind Haleths unsere Familie.“

      Die meisten Anwesenden waren mit einem Geschwister aufgewachsen und wussten, dass es sogar zu zweit nicht leicht war, den Hof mit den Eltern zu bewirtschaften. Die Herren Doriaths fürchteten eine Überbevölkerung Brethils durch die Menschen und ließen somit nur in Zeiten großer Verluste an der Front mehr als zwei Kinder pro Familie zu. Was also mochte es bedeutet haben, dem Boden ohne die Hilfe eines Geschwisters, seine Früchte abzutrotzen?

      „Nandor Anga aus Melahr wurde ich damals gerufen. Kein Kampfname zierte mich, nur der Beruf der Familie und der Name unseres elbischen Lehensherren ließ mich von den übrigen unterscheiden.“ Den Namen Nandor, für Bauer, teilten viele seiner Kampfgefährten. Nach dem Brauch der Haladin führte jeder auch den Namen seines elbischen Lehensherren. Und auch hier gab es viele, die denselben Namen trugen, denn wenige Elben besaßen häufig viele Ländereien. Einzig der Kampfname wurde nicht in Quenya, sondern der Sprache der Haladin, verliehen und machte den Haladin einzigartig.

      Gerade als er seinen Namen ausgesprochen hatte, ertönte wieder der Ruf „Barai, Barai, Barai“. Er lächelte und doch zog sich sogleich tiefer Ernst über seine Züge, als er fortfuhr:

      „Nicht nur das Schild kann uns schützen, nicht nur das Schwert den Gegner treffen. Auch Worte, wohl gewählt und richtig platziert, machen uns stark. Ich war damals schon einige Zeit an der Furt stationiert. Hier und da Scharmützel mit Dunkelmenschen und stinkenden Orks. Doch nichts, was auf Dauer befriedigen kann. Ich war ein wenig, nicht sonderlich schnell und doch stetig, aufgestiegen in den Reihen der Verteidiger und hatte das Einerlei an der Furt schon fast satt.
      Bis zu jenem Tage... Eine kleine Abteilung unserer Späher war einige Wochen zuvor in einen Hinterhalt geraten und in die Minen zur Zwangsarbeit verschleppt worden. Nur zwei Haladin hatten sich aus den orkischen Klauen reißen und fliehen können. Der ward bereits totgeglaubt, als eines Tages ein gellender Schrei die Routine durchriss. Einer der unsrigen, übel zugerichtet, hastete auf die Furt zu. Gehetzt und panisch, schwer verletzt, das Leben fast ausgehaucht. Wir ritten ihm entgegen und schlugen eine Rotte Dunkelmenschen zurück, die ihn verfolgt hatten. Es war einer der Späher, die einige Wochen zuvor in die Hände der dunklen Verbände gefallen waren. Unter großen Schmerzen trug er vor, was er erfahren hatte: Einer der unsrigen, ein Mitgefangener, hatte der Folter nicht standgehalten und getan, was größte Schande über ihn und äußerste Gefahr über sein Volk gebracht hatte – der Verrat von Ephil Brandir!“
      Ein Raunen ging durch die Zuhörer und der Schauder in ihren Reihen war deutlich zu spüren. „Der Sterbende offenbarte, dass bereits Dunkelmenschen mit Hilfe von dunklen Gelehrten die Furt umgangen und über eine Brücke den Fluss Teiglin überquert hatten. Sie waren bereits auf dem Weg nach Ephil, unserer aller Festung im Gebirge. Wir wussten damals alle nicht, was zu tun war. Die Furt bewachen oder der Besatzung von Ephil Brandir zur Hilfe eilen? Mein damaliger Hauptmann traf eine Entscheidung. Er blieb mit ein paar Mann an der Furt und entließ zwei Abteilungen, um die Palisadenfestung zu verteidigen. Eine dieser Abteilungen führte ich in diesen schweren Tagen an. Meine schwerste Mission.“ Er setzte sich wieder und nach einer kleinen Pause fuhr er fort:

      „Wer von Euch die Berge im Winter kennt, weiß, was es bedeutet, gegen die Zeit zu marschieren. Wir wussten nicht, wie weit die Dunkelmenschen bereits auf die Feste vorgerückt waren und so verlangte es äußerste Härte, die Abteilung schnell den Paß hinauf gen Ephil zu führen. Viele Männer verloren ihr Leben bevor unserer Schwerter das Blut des Feindes schmecken konnten. Lawinen, wilde Tiere in der Nacht und der strapaziöse Marsch in der eisigen Kälte verlangten ihren Tribut.
      Der Berg Amon Obel wurde für viele meiner Kampfgefährten zum Inbegriff für Entbehrung und Verderben. Und als uns der Mut schon fast verlassen hatte, einige bereits aufgeben wollten, an Umkehr dachten. Zu diesem Zeitpunkt musste etwas getan werden. Ein Zeichen gesetzt. Und wer hätte dies damals tun soll, wenn nicht ich als Führer dieser Abteilung? Ich war nicht stärker als die anderen, nicht klüger als die meisten und doch war mir die Bedeutung meiner Aufgabe so klar wie nie. Ich musste die Männer ans Ziel bringen – was es auch koste.
      Am Morgen, drei Stunden Rast hatten wir uns gegönnt, versammelte ich die übrigen Männer. Ich nahm meinen Bogen zur Hand und entzündete einen Pfeil. Am Rande des Passes ging ich in Stellung und zielte geradewegs in den Himmel. Dann schaute ich meine Männer, oder das, was davon übrig war, an und sprach: ‚Sehet diesen Pfeil. Er ist nicht mehr als der Kern eines Baumes aus eurer Heimat Brethil. Und seht ihn brennen – entflammt durch meine Hand und nicht von selbst. Und nun schaut, was dieses Stück Holz vermag.’ Ich schoss den Pfeil geradewegs in den Himmel und rief den Männern zu: ‚Nun blickt hinauf und staunet, was dieses leblos Ding vermag. Entflammt von fremder Hand und aus totem Holze nur – und doch es steigt hinaus den Amon Obel ohne Müh und Klagen. Nun sagt mir Männer – wollen wir verzagen? Sind doch aus Fleisch und Blut und lebendig hier. Lasst mich euer Herz entflammen wie ich’s mit dem Pfeile tat und uns gemeinsam übertreffen, was dies Stück Holz vermag.’ Er wandte sich an seine Gefährten am Feuer und hob an: „Ihr seht, es ist nicht immer der kalte Stahl des Schwertes, der den Gegner trifft. Es sind auch Worte, wenn sie bewegen in der Not.
      Wir erreichten die Feste noch vor dem Gegner und schlossen die Reihen der Verteidiger mit unserem Schilde. Das blutigste Gemetzel, das ich je gesehen und doch mir den Namen verlieh: „Barai“, der Kampfname in unserer alten Sprache und in der Bedeutung mit „Flammendes Wort“ gleichgesetzt.
      Kämpfet tapfer und setzt Eure Worte weise ein. Glaubt an das Feuer in Euch und steigt den steilsten Berg empor, wenn Freunde in der Not. Dann werdet auch Ihr euch absetzen vom einfachen Hirten und einen Namen tragen, der Euch einzigartig macht!“

      So schloss Barai seine Geschichte und hoffte, dass sie verstanden worden war. Denn bald war es an der Zeit für ihn, seine Gefährten zu verlassen. Brethil den Rücken zu kehren und seinen Namen in Mittelerde zu bestätigen. Eine Sippe wollte er sich suchen, um zu lernen von anderen Rassen und fernen Ländern. Und um sich eines Tages als Heerführer wieder der Verteidigung seines Waldes widmen zu können. Doch zuvor musste er dem Rastlosen gehorchen und die Welt hinausziehen, um sein Schwert und Schild im Dienste des Guten einzusetzen...